Die Idee unseres Projekts ist „alt“ – im Hintergrund nachvollziehbar bis in ihre mythologischen, d.h. menschheitsgeschichtlich bedeutsamen Wurzeln. Das mythologische, göttliche Pferd war „Psychopompos“, Seelenführer, Seelen geleitender Wegbegleiter. Der „Therapeut“, (griech. „therapon“) ist „Diener“ und „Gefährte“; Chiron, halb Mensch, halb Pferd, heilkundiger Kentauer und Lehrer des Asklepios, war Therapeut in Pferdegestalt. Er vermochte seine eigenen Schmerzen nicht zu lindern, aber er lehrte Asklepios zu heilen! In den Märchen führen und tragen wissende Pferde den Menschen, weisen ihm den Weg an bessere innere und äußere Orte. Etwas vom Wesen der Pferde wirkt, wie es scheint, heilsam auf die Seele der Menschen, und so ist es kein Zufall, dass sie mehr und mehr dort an Bedeutung gewinnen, wo konventionelle psychotherapeutische Ansätze – etwa in der Arbeit mit schwer traumatisierten Menschen – an ihre Grenzen stoßen.
Pferdegestützte Psychotherapie
In der psychotherapeutischen Behandlung trägt das Pferd den seelisch verletzten Menschen. Als reales, lebendiges Therapiepferd begegnet es Patienten und Patientinnen hilfreich, wohlmöglich heilend; eine Erfahrung, die wir seit 1996 immer wieder mit großem Staunen machten. Mit der zentralen Frage „Was eigentlich wirkt vom Wesen des Pferdes auf die Seele der Menschen?“ stoßen wir bald an Erklärungsgrenzen. Was in vielen Einzelfällen berichtet und bestätigt, bisher aber nicht nachgewiesen wurde, stößt auch an Grenzen sprachlich zutreffender Begrifflichkeit – handelt es sich um „emotionale Intelligenz“, um „Instinkt“, um Empathiefähigkeit oder um andere Resonanzphänomene ?
Wir haben einen Ort geschaffen, an dem Praxis, Lehre und Forschung im Bereich der Psychotherapie mit dem Pferd miteinander verbunden sind. Unser Anliegen ist es, den hohen therapeutischen Wert, den das Pferd als zusätzliches, lebendiges Medium haben kann, zu dokumentieren, zu evaluieren und zu belegen, d.h. die Wirkfaktoren des Pferdes auf die menschliche Psyche zu beobachten, zu beschreiben und theoretisch zu fundieren. Mit der Einbeziehung von Pferden in ein psychotherapeutisches Richtlinienverfahren handelt es sich nicht um eine neue Therapiemethode, sondern um die Öffnung und Erweiterung des therapeutischen Settings unter Beibehaltung aller wesentlichen Grundsätze tiefenpsychologisch – psychoanalytischer, verhaltenstherapeutischer oder systemisch-familientherapeutischer Praxis.
Auf Kroed befinden sich derzeit sieben Therapiepferde – drei Isländer und vier Warmblüter. Mit ca. 10 ha Grün- und Ackerland, zwei Außenreitplätzen (Gras und Sand), Halle 20 x 45m und diversen Ausbaureserven bieten die Höfe nahezu alle Voraussetzungen für dieses Vorhaben, vor allem eine artgerechte Haltung der Pferde in Boxenställen mit täglich mehrstündigem Auslauf oder Weidegang sowie Offenställen und kleinen Herdenverbänden.
Die psychotherapeutische und körperpsychotherapeutische Arbeit mit dem Pferd ist, so lässt die empirische Erfahrung vieler Jahre und lassen zahlreiche Einzelfallberichte zwingend vermuten, ein hochwirksames therapeutisches Instrument. Sie ermöglicht auf der ganz basalen Ebene des Körper-Selbst offenbar tiefe, heilende Selbst- und Beziehungserfahrungen. Als leiborientierte Interventionsform, eingebunden in eine tragfähige therapeutische Beziehung, bietet sie die Möglichkeit ganzheitlichen Erlebens innerhalb eines geschützten Erfahrungsraumes. Das Pferd steht als lebendiges Wesen dem häufig sehr verletzten Grundbedürfnis nach Beziehung und Bezogenheit zur Verfügung. Es öffnet auf einer rein sinnlichen, vorsprachlichen Ebene die Fähigkeit des Fühlens, Sich-Einfühlens und einer Art Affekt-Abstimmung, wie sie in der ganz frühen Mutter-Kind-Beziehung geschieht. Hier geht es um die Erfahrung intersubjektiver Regulierung und intersubjektiven Austauschs, einer wortlosen Verständigung, die weit umfassender ist, als die der Sprache. Daniel Stern,*) Psychoanalytiker, Säuglingsforscher und Entwicklungspsychologe, bezeichnet mit Intersubjektivität eine dritte von vier Stufen der Selbstentwicklung – auftauchendes,- Kern- zuletzt verbales Selbst – wobei das intersubjektive Selbst präverbal um den 7. – 9. Lebensmonat eine Gemeinsamkeit der Aufmerksamkeit, der Intention und ein Abgleichen affektiver Zustände i.d. Regel v. a. mit der Mutter meint. Stern versteht dieses Modell nicht linear und phasisch, sondern im Sinne jeweiliger Erweiterungen.
Kennzeichnend für den intersubjektiven Kontakt ist ein wechselseitiges Sich-in-den-anderen-Hineinversetzen, wir „lesen“ den anderen, fühlen, was in ihm vorgeht, empfinden ihn oder sie nach und mit. Wir fühlen im eigenen Körper, was der andere fühlt, indem wir seine Körperhaltung oder seine Bewegungen und seinen Gesichtsausdruck sehen, seinen Tonfall hören, seinen Affektausdruck und seine wie auch immer spürbaren Intentionen wahrnehmen; dies geschieht intuitiv, teilweise bewußt, teilweise nur halb bewußt und ebenso registrieren, speichern und verarbeiten wir in Sekundenbruchteilen seine Reaktionen auf unsere Antworten und gleichen so das Erspürte ab. Unser Nervensystem ist so konstruiert, – so Daniel Stern – daß es vom Nervensystem anderer Menschen „verstanden“ werden kann; auf diese Weise können wir andere nicht nur mit unseren eigenen Augen wahrnehmen, sondern auch so, als ob wir in ihrer Haut steckten. „Potentiell steht uns eine Art emotionaler Pfad offen, der direkt in den anderen hineinführt. Wir nehmen an seinem Erleben teil und lassen es in uns widerhallen und umgekehrt gilt das Gleiche.“ Das Bedürfnis nach Intersubjektiver Bezogenheit wird in modernen psychoanalytischen Konzepten als eine der wesentlichsten Motivationen beschrieben, die einen psychotherapeutischen Prozess vorantreiben.
Gemeinsamkeit im Focus der Aufmerksamkeit, Gemeinsamkeit in der Intention und eine sich sensibel einschwingende, v.a. keiner Worte bedürfende Resonanz auf die eigene Befindlichkeit, eine in einem ganz umfassenden Sinne annehmende, verstehende und wahrnehmende Anwesenheit – all das scheinen auch die Pferde unseren PatientInnen zu geben.
Darüberhinaus ermöglicht das Pferd körperliche Berührung und seelisches Berührtsein, wobei das Erleben des Getragenseins eine besonders wichtige, entwicklungspsychologisch hoch bedeutsame Erfahrung ist. Das Pferd fördert und fordert auf der ganz konkreten, äußeren Ebene Aufrichtung und Balance, es bringt den Menschen in seine Mitte, ins Gleichgewicht. Die Körperarbeit mit und auf dem Pferd umfasst die ganze Bandbreite passiv-regressiver Erfahrungen des Sich-Überlassens, Getragen-, Gewogenwerdens und eher aktiver Erfahrungen behutsamen Herangehens: Zuwendung, Bezogenheit, Fürsorge, aber auch Steuerung, Grenzsetzung und deutliche Willensäußerung, auf die das Pferd unmittelbar, vor allem nicht-wertend reagiert. Die Begegnung mit dem Pferd als lebendigem Wesen impliziert bei jeweils selbst gewählter Nähe und Distanz das Wiedererleben bzw. die mögliche Rekonstituierung der eigenen Körpergrenzen. Innerhalb deutlicher werdender Körpergrenzen und kohärenterer Ichgrenzen kann sich die Patientin eine emotionale Öffnung in der Beziehung und damit eine Öffnung hin zum eigenen Selbst psychisch „leisten“ und erlauben.
Psychotherapeutische Indikation
Besonders geeignet erwies sich bisher die Arbeit mit dem Pferd für Menschen mit psychosomatischen Erkrankungen, insbesondere Eßstörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und allen anderen Erscheinungsformen psychischer Beeinträchtigung, die mit Störungen des Körperempfindens, des Körperschemas und der Körperwahrnehmung einhergehen. Patienten mit Ängsten und depressiven Störungen und entsprechenden Problemen in der Beziehungsgestaltung können von der Therapie mit dem Pferd profitieren, und auch – unter strenger Indikationsprüfung – Patienten mit Persönlichkeitsstörungen. Eine weitere mögliche Indikation stellt sich bei Menschen mit chronischen Schmerzen, sowohl bei nachgewiesenen somatischen Erkrankungen, als auch ohne Nachweis einer relevanten körperlichen Läsion.
Die therapeutische Beziehung – in der Dyade PatientIn-TherapeutIn und in der Triade mit dem hinzukommenden Pferd – ist das integrierende Gefäß des gesamten Prozesses. Sie ist Ort der Austragung, Bewußtwerdung und Veränderung einer inneren und äußeren psychopathologischen Dynamik. Das therapeutische Malen, Arbeit mit Ton oder das Gestalten von Sandbildern dient dem Ausdruck all jener Inhalte, die sich verbaler Kommunikation (noch) entziehen, oder in diese erst hineinübersetzt werden müssen. Das Malen und Gestalten des inneren Erlebens, der inneren Bilder, ermöglicht wiederum Anschauung, Reflexion, Abgrenzung und Distanz. In Bildern und Zeichnungen können ebenso all jene nicht verbalen, sinnlich – körperlichen Begegnungserfahrungen mit dem Therapiepferd möglicherweise eher verarbeitet werden und einen Ausdruck finden, als in Worten und gesprochenen Mitteilungen. Zugleich erlauben sie im Rahmen von Wirksamkeitsstudien behutsame Rückschlüsse auf diese ganz besondere Beziehungserfahrung.
*) D. Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings FfM. 1992 u. Der Gegenwartsmoment, Stuttgart 2005