Die Pilotstudie (2019 – 2021)
In unserer retrospektiv angelegten Pilotstudie (s. frühere Beiträge) führten wir semistrukturierte Interviews mit sechzehn Patient*innen und ihren Therapeutinnen zum subjektiven Erleben der Einbeziehung von Pferden nach Abschluss ihrer Therapien durch. Mit der Idee, auch das Unbewusste einzubeziehen, schlossen wir mit allen dazu bereiten Patientinnen Imaginationen sowie Traumerzählungen an die Interviewgespräche an.
Die Ergebnisse dieser ersten Untersuchung lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Eine pferdegestützte Psychotherapie erweist sich vor allem bei Menschen mit belastenden Beziehungserfahrungen in der Kindheit sowie mit Traumafolgestörungen als besonders geeignet. Mehr als zwei Drittel der Patientinnen nannten von sich aus Ängste, Überforderung und Widerstände, sich und ihre Situation einer Therapeutin unmittelbar verbal zu erklären, als wesentlichen Grund zur Einbeziehung der Pferde in ihre Therapie. Mehrheitlich wurden vorausgegangene, rein sprachgebundene Therapien als nicht hilfreich empfunden. Von den Patientinnen wurde die Beziehungsaufnahme mithilfe der Pferde als Brücke in die Therapie
- Als Medium steht das Pferd tatsächlich in der Mitte, im Zentrum der Kommunikation eines oszillierenden, intersubjektiven Feldes der jetzt triangulierten therapeutischen Beziehung. Die bei den Patientinnen durch die Pferde ausgelösten Gefühle von Halt, Schutz und Geborgenheit trugen wesentlich dazu bei, auch ihr Vertrauen in die Beziehung zu ihren Therapeutinnen zu fördern.
- Patientinnen und Psychotherapeutinnen befinden sich durch das Einbeziehen der Pferde in einem Übergangsraum zwischen Praxis und Lebenswelt. Psychologisch ist dieser Übergangsraum durchaus dem potenziellen Raum im Winnicott’schen Sinne vergleichbar. Sowohl Patientinnen als auch Psychotherapeutinnen brachten in vielfältiger Weise zum Ausdruck, dass dieser erweiterte Therapieraum eine Aktivierung von Ressourcen, eine Aktualisierung von Problemen und Konflikten und einen in konkretem Handeln verankerten Erkenntnisgewinn ermöglichte.
- Die wiegende Bewegung des Pferdes im Schritt, häufig in Verbindung mit sich synchronisierender Atmung oder Herzfrequenz, knüpft an frühe, unter Umständen auch defizitäre Erfahrungen eines umfassenden, körperlich-seelischen Getragenseins, einschließlich der vorgeburtlichen Situation an. Die mit dem Bewegungsdialog einhergehende, psycho-somatische Beruhigung und Entspannung öffnete für die Patientinnen den Zugang zu verdrängten oder schwierigen, negativ konnotierten Emotionen wie Angst, Trauer oder Wut. Darüber hinaus schien die körperliche Berührung mit dem Pferd ein gewisses Vertrauen hinsichtlich der Regulierbarkeit dieser Emotionen zu generieren. Sowohl die Therapeutinnen als auch die Patientinnen sprachen von einer „erdenden“ Wirkung der Pferde, die beiden Therapiepartnerinnen eine größere Sicherheit gab, sich der Bearbeitung traumatischer und bis dahin vor allem dissoziativ bewältigter Erlebnisse und Erfahrungen zuwenden zu können.
- Patientinnen und Therapeutinnen beschrieben mit eindrücklichen Worten, dass sie ein tiefes Wissen der Pferde um die seelische Situation des Menschen für möglich halten. Häufig reagieren die Pferde deutlich auf ein Auseinanderdriften der emotionalen Verfasstheit und den nach außen kommunizierten Botschaften der Patientinnen. Alle Therapiepartnerinnen, jeweils auf ihre eigene Weise mit den Pferden verbunden, erlebten immer wieder mit Staunen das zugewandte Bezogensein der Pferde auf die Menschen. Die Patientinnen beschrieben Empfindungen von wortlosem verstanden, geliebt, angenommen und beschützt werden.
- Häufig wurde von den Patientinnen betont, dass die Pferde sie mitnehmen in ihr Eingebundensein in die Natur und dass sie bereits die Natur an sich als heilsamen Ort ihrer Therapie erlebten. Manche der Patientinnen fühlten sich in der Nähe der Pferde in der Tiefe „eins“ mit sich selbst und wieder verbunden mit der eigenen, inneren Natur.
In den Imaginationen verdichteten sich nahezu alle oben genannten Aspekte zu inneren Bildern, in denen die Tiefendimension der Beziehungen zwischen Patientinnen und Pferden zum Ausdruck kam. Essentiell für alle beschriebenen Wirkungen sind die erlebten Beziehungsangebote der Pferde, ihre feine Resonanz, ihre Bereitschaft zur Kommunikation und Interaktion mit dem Menschen, vor allem ihre – von den beteiligten Therapiepartnern empfundene – Fähigkeit zur Empathie.
Das zusammenfassende Schlusskapitel der Buchpublikation endet mit der damals noch vagen Idee: „Wünschenswert ist, dass sich auch weitere, interdisziplinäre Forschungsinitiativen zur Erhellung der kommunikativen und empathischen Resonanzprozesse zwischen Menschen und Pferden generieren lassen – sowohl um vorhandene Potenziale der Pferde deutlicher zu erkennen, als auch, um Idealisierungen entgegenzuwirken. Hier geht es darum, Modalitäten zu finden, die die Kluft zwischen Forschung und klinischer Praxis zu überbrücken vermögen.“ [1]
Die Folgestudie (2021 – 2024)
Unterdessen befinden wir uns im letzten Drittel der Datenerhebung unserer zweiten, jetzt prospektiven Studie – in Kooperation mit der Sigmund Freud Privatuniversität (SFU) Linz, Studiengang Psychotherapiewissenschaft, Prof. Dr. Thomas Stephenson.
Hier verfolgten wir die Absicht, die in der ersten Studie gewonnenen Erkenntnisse, d.h. vor allem Aspekte des leib-seelischen, artübergreifenden, intersubjektiven Geschehens im Dreieck Therapeutin-Pferd-Patientin weiter zu vertiefen. Hierzu sollten die Videodokumentation der Therapiesequenzen bei den Pferden, das deutlichere Einbeziehen von Bildern neben dem gesprochenen Wort (Träume, innere und gemalte Bilder etc.) und die regelmäßigen Verlaufsinterviews mit den Therapeutinnen dienen.
Die an diesem Forschungsprojekt beteiligten, approbierten Kolleginnen schicken uns ihre (mit Bodycams erstellten) Videoaufnahmen jener Therapiestunden, die – meist im Wechsel mit den „konventionellen“ in derPraxis – bei den Pferden stattfinden, nach jeder vierten Stunde. Wir sichten dieses Material, erstellen Zusammenschnitte mit den besonders relevanten Sequenzen und treffen uns per Zoom zu semistrukturierten Verlaufsinterviews mit den Kolleginnen, die ebenfalls aufgezeichnet werden. Wir fokussieren vor allem jene besonderen „Resonanzkonstellationen“, die sich in den therapeutischen Mensch-Pferd-Mensch-Begegnungen als oft erstaunliche, tief berührende, gemeinsam mit der Therapeutin erlebte „Gegenwartsmomente“ (D. Stern) ereignen. Bisher liegen von acht Therapeutinnen und zwölf Patientinnenüber 100 Stunden Videoaufzeichnung im Original (sowie die dazugehörigen Zusammenschnitte) und ca. 20 Stunden videoaufgezeichnete Verlaufsinterviews vor.
Wir können sagen, dass sich alle in der retrospektiven Pilotstudie ermittelten Ergebnisse in den nun vorliegenden Videodokumentationen der hier begleiteten Therapien abbilden, d.h. beobachten und nachvollziehen lassen.
Um auch auf einer kognitiven, bewussten Ebene Wirkungen aus der Sicht der Patientinnen erfassen zu können, stellten wir den rein qualitativen Methoden zwei Fragebögen zur Seite – die Befindlichkeitsskala nach Zerssen und einen eigenen, pferdespezifischen Fragebogen (jeweils zu Beginn und nach Abschluss auszufüllen).
Im November 2021 stellten wir erstmals Ausschnitte unseres Materials dem Forschungsteam der SFU per Zoom vor.
Im März 2022 trafen wir uns zu einer ersten Klausurtagung in Linz (Prof. Dr. Thomas Stephenson, Ass. Prof. Agnes Stephenson, Sanna Heering, Birgit Heintz, Marika Weiger) und beschäftigten uns mit Videozusammenschnitten aus drei Therapieverläufen – noch eher offen assoziativ.
Die einzelnen Interpretationssitzungen wurden ebenfalls videoaufgezeichnet und transkribiert sowie auszugweise zusammengefasst. Thematische Schwerpunkte im März 2022 waren neben grundsätzlichen Überlegungen zu den Möglichkeiten des „Szenischen Verstehens“ als Kern tiefenhermeneutischer Analysen:
- Die besondere Bedeutung der Möglichkeit körperlicher Nähe und Berührung durch das Pferd (emotionale Öffnung, eigene Kontrolle über Nähe und Distanz) – gerade für traumatisierte Patientinnen.
- Die „Gegenübertragung“ der Pferde – was spüren Sie, gehen Sie in Resonanz, was „motiviert“ sie im Kontakt mit den Patientinnen?
- Die zumeist positiven Wirkungen unseres Forschungssettings (mitlaufende Kamera, Verlaufsinterviews, Forschungsgespräche im größeren Team) auf die therapeutischen Prozesse (z.B. Intensivierung der Reflexion) und die therapeutische Beziehung (z.B. durch das gemeinsame Betrachten der Filmaufnahmen)
- Wirkungen auf die therapeutische Haltung und das Selbstverständnis der beteiligten Therapeutinnen
- Implikationen für eine dem Gegenstand angemessene, originäre Art der Forschung für die Psychotherapiewissenschaft
Tiefenhermeneutische Videoanalyse als „Projekt im Projekt“
Wir befinden uns im Januar 2023 nun im dritten Jahr unserer zweiten Studie.
Für die Auswertung unseres bisherigen und noch folgenden Videomaterials planten wir die Zusammenstellung einer tiefenhermeneutischen Interpretationsgruppe für insgesamt zwanzig zweieinhalbstündige Sitzungen in diesem Jahr. Am 06./07. Jan.´23 starteten wir im Rahmen einer Klausurtagung mit dem Forschungsteam der SFU Linz, zwei an der Studie teilnehmenden Psychotherapeutinnen und vier weiteren, an Hochschulen und in der Psychotherapieforschung leitend tätigen Kolleg*innen.
Mit dem als tiefenhermeneutische Videoanalyse geplanten Auswertungsprozess beschreiten wir nun erneut – quasi als „Projekt im Projekt“ – forschungsmethodisch neue Wege. Neben der Vertiefung der in der Pilotstudie gewonnenen Erkenntnisse interessieren uns folgende Themen und Fragen besonders:
- Wie können wir genauer erklären, warum für die Patientinnen das Erleben artübergreifender Zuwendung und „Intersubjektivität“, nonverbaler, „zwischenleiblicher“ Kommunikation und Resonanz oft so tief bewegend und überwältigend ist – und meist katalytisch auf ihre weiteren Therapieprozesse wirkt?
- Die sich wiederholende Beobachtung, dass Pferde sich – „empathisch“ im weitesten Sinne – in ihrem Verhalten auf innere Befindlichkeiten der Patientinnen zu beziehen scheinen, lässt annehmen, dass sie diese inneren Befindlichkeiten in irgendeiner Form spüren und erfassen, somit darauf reagieren können. Sie scheinen zu trösten, aber auch zu „containen“, emotional ansteckbar zu „spiegeln“, mitunter herauszufordern etc. Was „motiviert“ Pferde, sich in dieser Weise auf Patientinnen einzulassen? Handelt es sich um evolutionär verankerte, „archetypische“ (Mythologie!) oder „instinktive“ psychische Strukturen, die bei anderen Tierarten ethologisch erforscht und als Analogien zur wissenschaftlichen Anschlussfähigkeit heranziehbar wären?
- Wie lassen sich die Einflüsse und Wirkungen unseres Forschungssettings (Videodokumentation, Verlaufsinterviews, Forschungsgespräche, Studienteilnahme überhaupt…) auf die Therapieverläufe beschreiben?
Immer wieder inspiriert, ermutigt und unterstützt durch die vorausschauende und unbeirrbare Haltung von Thomas Stephenson, entwickelten wir ein forschungsmethodisches Vorgehen, das sehr eng mit den laufenden Therapien verzahnt ist. Diese Option einer partizipativen Psychotherapieforschung soll in ihrer ständigen Rückbezüglichkeit auf die untersuchten Therapieverläufe aufzeigen, wie praxisrelevant die Forschung, und wie forschungsrelevant die Praxis ist – gerade auf dem noch so jungen Gebiet der pferdegestützten Psychotherapie.
Birgit Heintz, im Januar 2023
[1] B. Heintz, Empathie auf vier Hufen – Einblicke in Erleben und Wirkung pferdegestützter Psychotherapie, Vorwort Th. Stephenson; V&R 2021